~ Ende Silberweiß 513 ~
Nachdem sie schon vor einigen Mondläufen auf den anderen Höfen gewesen war um mit ihren Pächtern den Zehnten festzulegen, ist Arúen heute auf dem Weg zum letzten der Höfe. Dieser Hof liegt in einem Waldstück, das zu den Ländereien Vinyamars gehört und begleicht seinen Zehnten nicht nur mit Ackerfrüchten, sondern auch mit Bau- und Feuerholz. Aber Allard, der Pächter ist mehrere Mondläufe überfällig und das ist für ihn höchst ungewöhnlich.
Begleitet von Elthevir auf seinem Falben und Ullmar auf dem Leiterwagen mit den beiden schweren Zugpferden davor, ist die Elbin schon am frühen Morgen aufgebrochen. Anfangs auf der Südstraße und nach kurzer Strecke dann auf den breiten Feldwegen kommen sie rasch voran. Aber kaum schwenkt die kleine Gruppe auf den Pfad ein, der sie in den Wald hinein und zu Allards Hof führt, ändert sich das.
Sie finden nur mit Mühe einen Weg zwischen den Bäumen, weil unzählige herabgefallene Zweige und Äste den schmalen Pfad versperren; eigentlich hätte dieses Holz schon im Herbst gesammelt und für den nahenden Winter als Heizmaterial zum Trocknen eingelagert werden sollen. Stattdessen liegen Reisig und Bruchholz nun unter dem Schnee und blockiert ihren Weg. Immerwieder müssen sie absitzen und den Pfad für Pferde und Wagen von dürren Zweigen und stabilen Ästen frei räumen. Einmal versperrt sogar ein Baum den Weg, der bei einem der Gewitter im vergangenen Herbst von einem Blitz gespalten worden sein musste. Und nur mit der Hilfe der beiden Zugpferde gelingt es, die massiven Splitterteile des Baumstammes zur Seite zu schaffen. Als sie schließlich die Lichtung mit dem Waldhof erreichen, runzelt Arúen die Stirn und eine stille Verzweiflung macht sich in ihr breit.
Der alte Allard, den Arúen nun schon seit zehn Jahresläufen kennt und zuletzt vor einem Götterlauf gesehen hat, humpelt aus einem ziemlich baufälligen Gebäude, anscheinend aufgeschreckt vom Hufschlag ihrer Pferde.
Über dem gesamten Anwesen liegt der saure Geruch von verfaulendem Heu in der klaren Winterluft. Auf dem Stalldach fehlen scheinbar schon länger Ziegel, es musste also in die Ställe geregnet haben, und auch andere Anzeichen des Verfalls sind unübersehbar. Ein Trog ist zur Seite gekippt und ein anderer sieht trotz einer dünnen Schneedecke grünlich und schaumig aus, als würde das Wasser bereits seit viel zu vielen Tagen darin stehen.
Eine verwahrloste Hecke verdeckt den freien Blick auf das Haus, aber Arúen kann zumindest das Dach des Wohnhauses sehen. Die Elbin ist mehr als bloß schockiert, als sie Shur in die Mitte des kleinen Hofes zügelt, und dann mehr vom Haus sehen kann. Die Fenster haben keine Scheiben und keine Läden mehr, sie sind nicht einmal mit Brettern oder Häuten vernagelt, sondern stehen einfach offen. Auf dem Dach fehlen mehrere Ziegel und der Schornstein hat sich gesenkt und sieht aus, als würde er jeden Augenblick abstürzen. Allard starrt sie alle nur an, als wären sie eine Erscheinung. Der Mann ist seit ihrem Besuch im vergangenen Zwölfmond stark gealtert und wirkt abgemagert. Seine Kleidung als abgetragen zu bezeichnen wäre noch geschmeichelt. Hemd, Überwurf und Hosen weisen zahlreiche Löcher und Risse auf und die ursprünglichen Farben sind unter Dreck und undefinierbaren Flecken nicht einmal mehr zu erraten. Die Stiefel sind an den Zehen so dünn, dass ein strumpfloser Zeh heraus schaut. Das Haar des alten Mannes ist ungepflegt und klebt an seinem Schädel, und seine Zähne sind verfault oder fehlen ganz. Bevor Arúen etwas sagen kann, dreht der Wind, und ein scharfer, beißender Geruch sticht ihr in die Nase, der von irgendwo hinter dem Haus kommen muss. Sie braucht einen Moment, um sich zu fangen. Einordnen kann sie den Gestank nicht, und irgendwie hat sie das drängende Gefühl, dass sie auch gar nicht wissen will, woher er stammt.
"Guten Tag, Allard. Wie geht es Euch?", beginnt sie in fröhlicherem Ton als ihr zu Mute ist. "Willkommen, M'lady. Könnte nicht besser gehen." Dann zögert er, blickt zu Boden und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. "Ich habe Euch nicht erwartet. Euch nicht und die Männer auch nicht.." Er reibt seine schwieligen Hände während er mürrisch von einem zum anderen sieht. "Für so viele Pferde ist hier kein Platz. Und es gib nicht genug Futter." Arúen übergeht die wenig freundlichen Worte des Alten und steigt ab. Sie hatte die vergangenen Tage nur wenig Ruhe gefunden, ist müde und friert. Entsprechend dünn ist ihre Nachsicht und Geduld an diesem Tag. Der unangenehme Geruch aus dem Stall stört sie und das ungute Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, zerrt an ihren Nerven. Und trotz dessen unbewegter Miene kann sie bei dem Elben an ihrer Seite die wachsende Anspannung und Wachsamkeit spüren, als Shu're Elthevir wie unbewusst seine Hand an den Griff seines Schwertes legt. Arúen hat keine Ahnung, wo das Problem liegt, aber sie ist entschlossen, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen.
Ullmar steigt vom Wagen und nimmt die Zügel von Shur, da Allard offensichtlich nicht die Absicht hat, etwas anderes zu tun, als dazustehen und verwirrt dreinzuschauen. "Ich nehme die Pferde, Shu'ra. Wir haben Futter für sie dabei. Denn so wie es hier draußen aussieht, gibt es hier nicht einmal genug Futter für die Tiere auf dem Hof. Und so wie es hier stinkt, gibt es hier auch kein einziges Büschel sauberes Heu." Er verzieht angewidert das Gesicht. "Ich bezweifle, dass es hier überhaupt genug Futter gibt um irgendwelche Tiere über den Winter zu bringen." Allard gibt kein Wort von sich, aber er starrt den Großknecht von Vinyamar feindselig an. Das Unbehagen, das Arúen gespürt hat je näher sie dem Hof gekommen sind, schlägt abrupt in Angst um. Sie unterdrückt dieses Gefühl mit der ihr eigenen eisernen Disziplin und sieht sich Allard genauer an. Der Mann, den sie aus den vergangenen Jahren kennt, ist schon immer wortkarg gewesen, aber immer freundlich und niemals feindselig. Außerdem hatte sie ihn als ordentlichen und intelligenten Mann kennengelernt. Dieser Mann hier scheint jedoch ein völlig anderer Mensch zu sein - mürrisch und ziemlich abgestumpft. Aus der Nähe betrachtet wirken seine Augen trüb und glasig.
Shu're Elthevir ist inzwischen ebenfalls abgestiegen und geht zum Stall, seine Haltung wirkt angespannt, so als erwarte er das Schlimmste. Er verschwindet in der im Dunkeln liegenden Scheune und nur wenige Augenblicke später hört Arúen ihn laut auf Shidar fluchen. Die blumige Kreativität, die er dabei an den Tag legt, verschlägt ihr allerdings schlichtweg die Sprache. Einen solchen Ausbruch hätte sie dem sonst so ruhigen Ritter ihres Vaters nie zugetraut. Einen Augenblick später taucht er wieder auf, sein sonst so unbewegtes Gesicht ist vor Zorn gerötet. "So behandelt man kein anständiges Vieh!" zischt er und fast sieht es so aus, als wolle er den Bauern ohrfeigen.
Elthevir war mit Pferden aufgewachsen, seine Familie betreute seit Generationen in Lyrtaran die Zucht des Hauses Mitarlyr. Der sonst so ruhige Elb bebt vor Empörung. Der Stall muss in einem noch schlechteren Zustand sein als Arúen nach dem äußeren Anschein angenommen hat. "Was meint Ihr damit, Elthevir?" "Ich habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen, Shu'ra, aber das hat mir gereicht! Da sind zwei Zugtiere, und sie stehen bis zu den Fesseln im Abwasser und die Boxen sind völlig verdreckt. So etwas habe ich noch nie gesehen." "Ich habe eben nicht die Kraft, mich um die Tiere zu kümmern," jammert Allard nun und sieht verschämt auf den Boden. "Ich schaffe es gerade, sie zu füttern, das Holz für das Feuer zu hacken und …" "Es wird eine ganze Menge Arbeit brauchen, diesen Stall auszumisten," unterbricht Elthevir ihn unwirsch. "Und das Dach muss auch repariert werden. Das ganze Gebäude ist eine einzige Schande!" Arúen würde jeden Eid schwören, dass sie den Elben noch nie so viel auf einmal in der Allgemeinsprache hat reden hören. Aber sie ist ganz seiner Ansicht und hofft, dass wenigstens Allards Frau in besserer Verfassung ist als er.
Wo ist sie überhaupt… und sein Sohn sollte doch auch hier sein… Dann ruft ein Blick auf den verwahrlosten Stall ihre Gedanken zurück zu den naheliegenden Problemen. Es macht sie regelrecht krank, wenn sie an die Tiere in diesem Stall denkt.
Es sind noch einige Stunden bis zur Dämmerung, und sie spürt einen gewaltigen Widerwillen, das Wohnhaus zu betreten und nach der Frau und dem Sohn zu suchen. Das Gefühl erscheint ihr merkwürdig, wie eine Art Prickeln auf der Haut, eine Kälte, die nichts mit der kalten Winterluft zu tun hat. Und so nickt sie Ullmar und Elthevir zu. "Dann lasst uns sehen, was wir vor der Dunkelheit noch tun können, um es den Tieren erträglicher zu machen." Die beiden Männer wechseln einen schnellen Blick, der Arúen nicht entgeht. Es ist eine Sache, wenn die Elbin auf Vinyamar die Arbeiten des Gesindes teilt wenn Not am Mann (oder der Frau) ist, aber es ist etwas ganz anderes, wenn sie es hier tut, scheinen die Blicke der beiden Männer zu sagen. Unter normalen Umständen wären auch die beiden auch nicht zu Stallarbeiten abkommandiert worden, das gehört zu den Aufgaben Gerions und der anderen Knechte. Die ganze Situation ist ihnen offenkundig unangenehm, und sie bemühen sich, Arúens Stellung als Herrin von Vinyamar und Hohepriesterin (eine Liste, die sich noch um einiges erweitern ließe und die Arúen stets zu verdrängen versucht) mit der dringenden Notwendigkeit, hier Ordnung zu schaffen, in Einklang zu bringen.