Geisterstunde
15. Grünglanz 514
Die Nacht ist noch immer monddurchtränkt und sternenklar - sehr hell und bleich, nur dass die Welt jetzt farblos wirkt und alles dahinzutreiben scheint, durch das silbergoldene Licht substanzlos geworden. Die beiden Halbmonde schweben noch so groß und nah über den Bäumen, als bräuchte man nur die Hand ausstrecken, um sie mit den Fingerspitzen zu streifen. Ihr Schein dringt durch das Dach der noch spärlich belaubten, verschlungenen Zweige und der hochgewölbten Äste über ihnen, und taucht die Bäume um die kleine Lichtung zu Füßen der Wasserfälle, auf der sie im taufeuchten Gras liegen, in Säulen dunstigen Lichts und Lachen tiefer, blauer Schatten. Ab und an trägt der sanfte Nachtwind einen feinen Schleier sprühender Gischt vom Fluss herüber, doch es ist nicht kalt – ihnen, noch gefangen im Nachhall dessen, was sie gerade getan haben, ohnehin nicht. Es hat sie beide verwandelt. Sie gezeichnet, verändert und im Innersten gebrandmarkt. Colevar ist sicher, dass Calait blaue Flecken davongetragen hat… und die Male, die ihre Fingernägel auf seinen Schultern hinterlassen haben, brennen noch immer schwach. Aber sie ist sein und er gehört ihr, und nichts, was auch immer ihnen von diesem Moment an geschehen würde, kann daran noch etwas ändern. Als sie ihn irgendwann fragt, ob er noch lebt, lacht er vollkommen lautlos und sein Gelächter versetzt ihren Körper, der immer noch der Länge nach auf seinem liegt, in sanfte Schwingungen. Ihr Herz schlägt gegen seine Rippen, ein kostbares, stetiges Pochen. >Ich kann dich sehen,< tönt es unter seinem Kinn und dann lauscht er ihrer leisen, rauchigen Stimme, die ihm erzählt, wie sie die Welt wahrnimmt und wie sie ihn wahrnimmt, und ihm mit ihren Worten Bilder malt - bis sie den Kopf hebt, ihr Kinn auf seine Brust stützt und ihn ansieht. >Silberne Linien und tausend Schattierungen. Die Konturen deines Gesichtes, der Zug deines Mundes, manchmal verschwimmt das Bild, dann ist es wieder so klar wie in Marmor gemeißelt. Aber das ist nicht mehr genug.< Sie stemmt sich hoch und sieht ihn an, und ihr Lächeln verändert sich. Es verliert nichts von seiner Zärtlichkeit, doch es wird sehr viel sehnsuchtsvoller. >Ich will dich sehen. Bis zu diesem Tag hätte es mich nicht umgebracht, wenn ich mein Augenlicht nie wieder zurückgewonnen hätte, aber jetzt…<
Er hebt eine Hand an ihr Gesicht und fährt mit dem Daumen über ihren Mund, diesen verboten sinnlichen Mund - und vergisst prompt, was er eigentlich sagen wollte. Noch einmal wandelt sich ihr Lächeln, wird schmerzlich, bittersüß und schwer wie Sommerregen, und so wehmütig, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Ihre Fingerspitzen berühren sein Gesicht, streichen sanft über seine Haut, finden die neue Narbe auf seiner Wange und verharren einen Herzschlag lang fragend darauf, so dass er sacht nickt - das wortlose Versprechen, ihr alles zu erzählen, was im Norden geschehen war… später. Ihre Geste hat etwas seltsam Eindringliches an sich, ebenso wie ihr Blick, der ihn vollkommen gefangen nimmt. >Ich möchte so gerne sagen: Lass uns nach Hause gehen. Zurück nach Talyra. Bring mich ins Sarthetal, zu deiner Familie. Ich will deinen Vater kennen lernen. Lass uns irgendwo am Wasser ein Haus bauen und Kinder haben. Ein Leben. Lass uns alt werden. Und irgendwann auf einer Hausbank sitzen und unseren Enkeln beim Spielen zuschauen.< Ewigkeiten oder Augenblicke vergehen in einem jener seltenen, kostbaren Momente, die man nie wieder vergisst, ganz gleich, wie alt man werden oder wie viel man erleben mag. Er sieht sie an und wird vollkommen still - selbst der Aufruhr in seinem Inneren und sein schlagendes Herz halten inne. Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn liebt und er weiß, dass es die Wahrheit ist, aber das hier ist so viel mehr. >Aber ich kann nicht. Ich habe kein Recht dich um irgendetwas zu bitten, nicht nach allem, was du schon für mich getan hast, aber wenn ich mein Augenlicht wieder haben will, aber vor allem damit wir dieses Leben haben können, bleibt uns keine andere Wahl als über den Frostweg in den Osten zu gehen und uns unserem Schicksal zu stellen.<
"Calait…" Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände und küsst sie, sehr sanft, sehr lange und sehr gründlich - gründlich genug, um alle Zweifel auszulöschen. "Du hast jedes Recht, mich um alles zu bitten", flüstert er schließlich, als er ihren Mund freigibt. "Ich will, dass du mich siehst. Ich will, dass du die Welt wieder siehst, das Licht, die Farben. Du sollst das Haus sehen, das wir am Fluss bauen werden. Du sollst unsere Kinder sehen und die Kinder unserer Kinder, wie sie vor der Bank spielen, auf der wir beide sitzen, wenn wir alt und grau sind. Ich will dieses Leben. Und wenn ich dafür einer…" mit einem leicht ironischen Lächeln erinnert er sich an ihre Worte, gesprochen vor mehr als einem Jahr, lange vor dem Beginn ihrer Reise in den Norden "…einem 'hässlichen, miesen, gemeinen Stück Wiesenhexe' entgegentreten muss, dann ist das ein angemessener Preis." Er wird der alten Schamanenschlampe ganz bestimmt nicht den Gefallen tun, und angstvoll von ihr als 'Remorwyen' flüstern. Er wird auch nicht den Fehler begehen, sie zu unterschätzen. Sie mag grausam und mächtig sein - in seinen Augen ist sie vor allem eine geistesgestörte Irre.
"Ein angemessener Preis…" wiederholt Calait heiser und er kann das Unbehagen über ihr Gesicht huschen sehen.
"'Wenn du den rechten Gefährten wählst, werdet ihr den Schatten vernichten'", zitiert er leise und sieht ihr unverwandt in die Augen.
"Aber du bist nicht meine Armee." Ihre Worte mögen scherzhaft sein, aber keiner von ihnen macht Witze.
"Nicht?" Jetzt tanzt eindeutig Belustigung durch seine Augen, aber sie spürt den Ernst unter seinem leichten Tonfall.
"Doch", erwidert sie resigniert und klingt dabei ganz elend. "Und du tust es und tötest sie, und alle, die sich dir sonst noch in den Weg stellen, nur um mir mein Augenlicht wieder zu beschaffen und…"
"Mir war nicht ganz klar", unterbricht er Calait, das Gesicht noch immer ernst, aber einer seiner Mundwinkel zuckt, "dass du mich wie Mammin für Blaeran den Seligen hältst."
"Tue ich auch nicht. Für Cobrin den Priesterkönig vielleicht." Jetzt lacht er wirklich und sie hat keine Ahnung warum, doch ihr ist offenbar überhaupt nicht nach scherzen zumute.
"Und du stirbst vielleicht dabei!" Sie legt die Hand auf seine Brust, als wolle sie das Herz darin beschützen. "Oder ich. Oder wir beide. Die verdammte Prophezeiung sagt nämlich kein Wort davon, was eigentlich mit uns geschieht, wenn wir diesen Schatten vernichten. Ich habe keine Angst um mich. Aber du… ich bin nicht vollständig ohne dich. Und ich kann nicht wieder ein halber Mensch sein, das kann ich nicht ertragen."
Colevar sieht sie lange an, bevor er leise antwortet. "Keiner von uns ist ohne den anderen vollständig. Calait… im letzten Herbst bin ich beinahe gestorben. Ich wollte auch sterben. Ich habe es fast drei Monde lang redlich versucht." Sie senkt den Blick für einen Moment auf ihre Finger, die immer noch über seinem Herzen ruhen. "Und ich wäre mit dir gestorben. Ich hätte es nicht gewusst, aber ich wäre mit dir gestorben."
"Aye", erwidert er und atmet hörbar aus. "Ich weiß. Das war der Grund. Warum ich mich entschieden habe, es doch nicht zu tun. Weil ich weiß, wie es sich angefühlt hat, als ich dachte, du bist tot. Und das würde ich dir nicht antun." Sie senkt Kopf und Blick, und er küsst ihre Stirn, als sie die Nase an seinem Hals vergräbt. "Wir werden dem Schatten ins Auge sehen. Was immer dann auch geschehen mag - wir tun es zusammen. Und wenn es unser Schicksal ist, dabei zu sterben, dann sterben wir zusammen." Einen Moment lang schweigt er und sieht in den endlosen Nachthimmel über ihnen. Millionen kalter Sterne glitzern in seinen überwältigenden, samtschwarzen und indigoblauen Tiefen, und die Luft ist so klar, dass sie wie die beiden Monde allesamt nahe genug scheinen, um sie zu berühren. Über ihnen breitet der Schwan seine Schwingen aus, aber er kann auch das Silberschild und den Bären erkennen - umschwärmt von so vielen kleinen Sternen, dass seine Umrisse kaum auszumachen sind. Der Anblick dieser ewigen Unendlichkeit, die sich über ihnen ausdehnt, so erhaben wie bescheiden, einfach da, Nacht für Nacht, ob man sie nun bewundert oder nicht, die ihre unvergleichliche Pracht so gleichmütig entfaltet, ob für die staunenden Augen von Menschen oder anderen Wesen, oder nur für die schweigenden Berge, die dunklen Wälder, die Kälte oder das Getier, das sich tagsüber verborgen hält, lässt alles andere klein und unbedeutend erscheinen. Und das ist im Grunde ein tröstlicher Gedanke. Was sind schon tausend Jahre im Angesicht der Ewigkeit? Und wenn es die Ewigkeit gibt oder auch nur die Idee der Ewigkeit, dann sind die Ereignisse eines gegebenen Augenblicks weit weniger wichtig – und gleichsam das einzige, was zählt. Dann steht die Zeit still, denn sie verliert ihre Bedeutung. Dann ist alles möglich – selbst das gute Ende einer Geschichte, die mit 'Es war einmal vor tausend Jahren' beginnt.
"Ich glaube nicht, dass wir sterben werden, Calait. Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich glaube… wir sind füreinander bestimmt. Und für etwas. Etwas, das Größer ist als wir… oder eine Remorwyen."
"Aye", erwidert sie grimmig. "Sterben kommt überhaupt nicht in Frage. Nicht jetzt." Dann ändert sich abrupt ihr Tonfall. "Colevar, was im Winterlager…"
Er hebt die Hand an ihren Mund und berührt ihn sanft mit den Fingerspitzen. "Ich sage nicht, dass mir das nichts ausgemacht hat, denn das tut es. Und ich sage auch nicht, dass ich es nie zur Sprache bringen werde, denn wahrscheinlich werde ich das. Und du ebenso. Was ich aber sage ist, dass es in dieser und in der nächsten Welt nichts gibt, dass dich mir nehmen kann – oder das mich dir nehmen wird. Willst du mir deswegen noch einmal widersprechen?"
"Oh nein", erwidert sie inbrünstig und seine Schultern entspannen sich ein wenig.
"Gut, denn es würde dir auch überhaupt nichts nützen."
Dann wird er unvermittelt ernst, so ernst, wie man nur werden kann und er spricht so leise, wie man nur von einer lebenswichtigen Angelegenheit spricht. "Es gibt Dinge, über die wir reden müssen, Calait. Es gibt Dinge, die ich dir erzählen will. Aber für den Anfang habe ich nur eine einzige Frage: Bist du meine Frau?"
Sie blinzelt überrascht, doch der Brustton der Überzeugung, mit dem sie erwidert natürlich sei sie das, lässt ihn wieder atmen – er hat nicht einmal bemerkt, dass er damit aufgehört hatte. Colevar fängt ihren Blick auf und sie erwidert sein Lächeln, als sich ihre Augen begegnen. "Dann komm mit mir."
Er hilft ihr aufzustehen, angelt nach seiner Hose und reicht ihr sein Hemd, weil sie weder ihre Beinlinge, noch ihre Tunika in der Dunkelheit finden. Es ist so groß, dass sie es wie ein Kleid tragen kann – ein Kleid, das ihr bis zu den Knien geht, dessen Ausschnitt so weit ist, dass er ihr über eine Schulter rutscht und dessen Ärmel sie bis zu den Ellenbogen aufrollen muss. Aber der weiche Stoff schmiegt sich um die Rundung ihrer Hüften und schimmert blass und durchscheinend im Mondlicht. "Dort hinauf." Colevar hat keine Ahnung, woher dieses Wissen auf einmal kommt, er weiß es einfach. Er weiß auch, wo der schmale Saumpfad verläuft, der sie dort hinbringen würde… wo immer 'dort' ist.
"Zum Cromlec'h* ", bestätigt Calait. Ihr geht es offenbar genauso, und sie spüren beide, dass der Ort sie zu sich ruft, an dem vor so langer Zeit alles begonnen hat. Vor tausend Jahren… Dann lächelt sie ein leises, geheimnisvolles Lächeln nur für ihn allein. Er nimmt ihre Hand, ihre Finger verschränken sich mit seinen, und sie folgen gemeinsam dem verschlungenen Weg zwischen Wald und Fluss, der an den Wasserfällen vorbei den Berghang hinaufführt. Es ist nicht weit, auch wenn der Ort sich anfühlt, als läge er fernab von allem, selbst von der Zeit.
Die Steine warten schweigend im Mondlicht, dunkel aufragende, halb verwitterte Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit im silbernen Gras. Manche der grob behauenen Felsblöcke sind zweimal so hoch wie er, manche reichen ihm nicht einmal bis zum Knie, zwei sind umgestürzt, gefällt von den Kräften der Zeit und der Elemente... aber sie markieren noch immer einen Kreis, und aus den Wurzeln des Herzstein in seiner Mitte entspringen die Quellwasser der Virta. Wasser hat immer etwas Lebendiges an sich und eine Gebirgsquelle, die rein aus dem Herzen der Erde entspringt, strahlt ein ganz besonderes Gefühl aus, aber hier ist es mehr. Colevar weiß nicht, wer diese Steine einst aus dem Fels der Berge geschlagen und hier errichtet haben mag… die ersten menschlichen Siedler in diesen Landen oder die Riesen der Altvorderenzeit? Vielleicht standen die Steine schon hier als Wächter eines heiligen Ortes, lange bevor die Sterblichen auch nur ein Gedanke im Lied der Urmutter waren. Aber sie spüren beide, dass an diesem Ort etwas lebt, etwas uraltes und machtvolles, etwas, das selbst älter ist als die Vorstellung von etwas Heiligem. Etwas, das zuhört… und es heißt sie stumm willkommen. In den Narben und Höhlungen des Herzsteins brennen Kerzen in geschmolzenen Lachen von Wachs, ihre Flammen schimmern im Wasser wie flüssiges Feuer und in ihrem Schein wartet Mammin auf sie. Sie sitzt auf einem Felsen am Wasser, zum ersten Mal mehr als nur eine körperlose Stimme, sondern ein blasssilberner Schemen, eine winzige Frau, so alt und gebeugt, dass man sie im ersten Augenblick für einen der Steine selbst halten könnte. Ihr Haar ist weiß, dünn wie Spinnwebfäden und so lang, dass es bis auf den Boden reicht, und ihre von tausend und abertausend dünner Falten und Runzeln überzogene Haut schimmert heller als Knochen. Aber ihre Augen sind die freundlichsten, die man sich vorstellen kann. Sie leuchten ihnen warm entgegen, Geist hin oder her, und ihr breites Lächeln enthüllt drei windschiefe Zähne. "Na endlich!" Werden sie empfangen. "Das hat ja lange genug gedauert – und das, obwohl du die letzten Jahre so enthaltsam wie ein zölibatärer Templer gelebt hast, mein Junge."
Colevar klappt den Mund auf und unverrichteter Dinge wieder zu, während Calait neben ihm auflacht, erheitert, fassungslos und in wilder Freude zugleich. "Mammin", sie kichert immer noch, "Mammin, was…"
"Schusch…" Der faltige Ur-ur-großmuttergeist hebt seine verrunzelte Hand und schwebt auf die Füße. Sie sind bloß, verkrümmt und genauso winzig wie der Rest von ihr. "Wartet. Nur noch einen Augenblick. Sie kommen schon, könnt ihr es nicht fühlen? Sie sind fast da. Dann können wir beginnen."
Beginnen? Er kennt die Antwort auf seine stumme Frage, noch ehe er den Gedanken zu Ende gebracht hat und Calait auch - sie wissen beide, warum sie hier sind, dreihundert Tausendschritt vom nächsten Priester oder Tempel entfernt. Offenbar weiß Mammin es auch - womit weder Calait noch er gerechnet haben, ist die Anwesenheit ihres Geistes. "Wer…" setzt er an und verstummt sofort wieder, denn die Nacht ringsum erbebt. Die ganze Nacht. Das weiche Gras unter ihnen, die uralten Steine, der Wald, die Wasserfälle, der Fluss, der Himmel, die Dunkelheit, die Sterne und ihrer beider Körper. Die Nacht scheint von einem schwachen Pulsieren erfüllt, unhörbar, aber sie spüren es als Prickeln auf ihrer Haut, als Vibration in ihren Muskeln und Knochen. Weißer Nebel steigt aus dem Boden wie Dampf, der die Steine einhüllt, bis es aussieht, als würden sie schweben und der Wind wispert von lange vergessenen Geschichten. Dann wird es sehr still - und nach ein paar atemlosen Herzschlägen entflammt die Stille langsam zu Licht.
Sie kommen, ein Heer geisterhafter Schemen, das sich aus der Dunkelheit unter den Bäumen schält, sich aus Dunst und Tau zu nebelhaften Gestalten formt, die zum Cromlec'h strömen, zwei, drei, acht, ein Dutzend, noch mehr. Sie kommen von allen Seiten, aus den Wäldern, vom Wasserfall, von den Bergen herab - manche so deutlich zu erkennen, wie Mammin, manche nicht mehr als ein fahles Leuchten, aber alle so wirklich wie die Erde unter ihren Füßen. Colevar spürt wie ein leiser Schauer seine Schultern und Arme mit Gänsehaut überzieht. Einen Moment lang hat er das deutliche Gefühl, seine Mutter sei hier, was verwirrend ist, denn sie ist seit fünfundzwanzig Jahren tot. Doch da sind noch mehr, andere – Männer wie er selbst, sehr groß und breitschultrig, in Leder und Pelze gehüllt, kalten Stahl in den Händen, mit hellen Augen und einem harten Lächeln um den Mund… die Geister toter Barbaren, die er nie gekannt hat, deren Namen er nicht weiß, aber dennoch Männer seiner Sippe. Andere der blassen Erscheinungen wirken klein, scheinen in weiße Wolle und weiße Felle gehüllt, mit schwarzem Haar und dunkler Haut, Geister der Wolkenkinder, Calaits Ahnen. Doch vor allen anderen betritt ein vierfüßiger Geist den Steinkreis. Gleich darauf spürt Colevar – spürt tatsächlich! – wie ein pelziger Schädel sein Knie rammt und schnurrend an seinem Bein entlangstreicht. Calait löst sich von ihm und sinkt in die Knie, um lachend und weinend zugleich einen sehr, sehr alten Freund in die Arme zu schließen, und wie in jener bitterkalten Nacht im Langschnee vor langer Zeit am anderen Ende der Welt und in einem ganz anderen Leben, blinzeln goldgelbe, wissende Augen zu ihm auf, als wollten sie sagen: Ah, du. Na, das wurde ja auch Zeit. Schön dich zu sehen. "Pelzgesicht…" 'Dreimal wird dein Herz brechen.' Die Worte waren Bestandteil seiner Prophezeiung und sie haben sich als genauso wahr erwiesen wie alles andere. Einmal hatte Lia sein Herz gebrochen, einmal Calait… und einmal dieser dreimal verdammte Kater, als er mit dem Sterben so lange ausgeharrt hatte, bis er nach Talyra zurückgekehrt war. Jetzt ist er hier und eine ganze Heerschar von Geistern folgt ihm auf den Pfoten. Dann geht ihm auf, warum sie hier sind. Um bei uns zu sein. Jetzt, hier, in dieser Stunde. Als Zeugen.
Aye, wispert eine lautlose Stimme zu seiner Linken und er erkennt sie sofort… er hätte sie überall erkannt, ebenso wie das schwache Glühen zu seiner Rechten, so sacht, dass es kaum als Gestalt auszumachen ist. Karmesin. Petyr. Er muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie es sind. Sie waren seine geschworenen Brüder. Sie waren mit ihm in den Schlachten zweier Kriege, in den Verliesen von Tinerhir und auf dem langen, langen Weg durch die Wüste. Einmal Olyvars Sieben, immer Olyvars Sieben. Doch da ist noch jemand… seltsam vertraut… irgendwie… wer? Irgendwo hinter sich hört er Calait lachen und Namen ausrufen, von denen er einige schon mehrmals gehört hat, wenn sie wieder einmal versucht hatte, ihm die verworrenen Verwandtschaftsgrade ihrer Sippe zu erklären - Drel, Nevenou, Soaz, Mari, Gid Bi und noch andere, die er nicht kennt. Dann fühlt Colevar eine federleichte Berührung an seiner Schulter, so flüchtig, als habe ihn im Vorübergehen ein Traum gestreift, und plötzlich weiß er, wer der dritte Geist ist, der an seiner Seite geht. Für einen Moment, einen langen Moment, stockt ihm der Atem, brennen ihm Augen und Kehle - und plötzlich ist die Sehnsucht nach ihr so groß, dass es schmerzt. Doch sie hat keinen Körper, den er berühren oder in die Arme schließen könnte. Die schattenhafte Gestalt einer Frau, groß und wunderschön, hat das rotblonde Haar zu einem dicken Zopf geflochten und ihre schrägen, dunkelblauen Katzenaugen über den hohen Wangenknochen fest auf Calait gerichtet, doch sie ist so substanzlos wie Rauch. Ihr Blick wendet sich ihm zu und er spürt ein Dutzend Empfindungen, die sich selbst wie Geister in der stillen Nachtluft bewegen… Rührung, Mitgefühl, Erleichterung, Liebe und Stolz - aber vor allem eine umfassende, überwältigende Wärme. Ihr Geist spricht kein einziges Wort, aber Colevar hat den Klang ihrer Stimme nie vergessen, auch wenn er nur ein kleiner Junge gewesen war, als er ihn zum letzten Mal gehört hat. Er kann ihn auch jetzt hören, klar und deutlich in seinen Gedanken. Nun, du hast sie zwar wahrscheinlich nicht verdient, aber gib dir Mühe, Junge. Er stößt einen leisen, halb erstickten Laut aus, ein Geräusch der Belustigung irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Schnauben. "Diolch yn fawr, mam*", ist alles, was er flüstern kann, seine Stimme so heiser, als habe er Rost im Hals. Sämtliche Luft entweicht aus seinen Lungen und als er wieder Atem holt, findet er sich direkt vor Mammin auf ihrem Felsen neben der Quelle wieder.
Sein Blick sucht Calait und als er sie findet, umringt von ihren Geistern, wendet sie sich um und geht ihm entgegen wie verwunschen, als habe er sie berührt oder zu sich gerufen. Ihre nackten Beine, silbrig glänzend wie das Meer im Mondlicht, teilen Nebel und hohes Gras, doch mit dem blass schimmernden weißen Leinen auf ihrer Haut, den dunklen Locken, sie sich feucht vom Nebel wie glänzende Schlangen über ihre Schultern ringeln und ihren Sommerhimmelaugen, die brennend auf ihn gerichtet sind, sieht sie aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Er nimmt ihre schlanken, vernarbten Finger fest in seine, im selben Augenblick, als sie ihre Hände nach ihm ausstreckt. Dann sieht sie vollkommen still zu ihm auf, nur an ihrem Hals pocht eine verborgene Ader unter ihrer Haut. Es spielt keine Rolle, dass sie nicht in einem Tempel stehen und kein Priester anwesend ist. Es spielt keine Rolle, dass sie weder Ringe noch einen Ehekontrakt haben. Es spielt auch keine Rolle, dass sie nur sein Hemd trägt und er überhaupt keines. Sie ist sein und er gehört ihr. Sie stehen auf heiligem Boden, die Elemente - Erde, Feuer, Wasser, Wind – sind um sie her und die Geister ihrer Ahnen, die ihnen lauschen und ihre Worte hören würden. Mammins schemenhafte Gestalt schwebt auf sie zu und er könnte schwören, selbst in dieser körperlosen Form ihre uralten Knochen leise aneinander klappern zu hören. In ihren gekrümmten, altersfleckigen Fingern erscheint ein Messer aus schwarzem Glas, das noch älter aussieht, wie der verschrumpelte Urururgroßmutterngeist selbst, aber glänzt wie dunkles Öl und schärfer ist als jeder Dolch aus Stahl. Die breiten Schnitte, die sie erst Calait, dann ihm selbst quer über den klopfenden Pulsadern zufügt, sind nicht allzu tief, aber sie bluten stark und brennen wie Feuer, bis Mammin ihre beiden Hände, Gelenk auf Gelenk, mit einem schmalen Band seidenweicher, schneeweißer Wolle zusammenbindet. Ihr Blut mischt sich mit seinem und tränkt den hellen Stoff. Dieses Ritual ist älter als jeder Brauch des Zwölfgötterglaubens oder die Feiern der Zusammengabe der Merc'arzoù, wenn zwei der ihren ein Herdfeuer gründen – das hier ist ein Ritual der Ersten Menschen, so archaisch wie berührend. "Du bist Blut von meinem Blut", beginnt er und Calait wiederholt leise, aber vollkommen klar, was er sagt, "und Fleisch von meinem Fleisch. Ich schenke dir meinen Leib, auf dass wir eins sein mögen. Ich schenke dir mein Herz, bis unser Leben enden wird. Solange die Welt bestehen mag, gehört meine Seele dir." Sein Herz füllt sich mit Wärme, die sich in seinem Inneren zusammenballt, die von seinem Kopf bis zu den Füßen strömt und selbst in seinen pochenden Fingerspitzen widerhallt, ein brennendes Sehnen, auf das er ebenso wenig Einfluss hat, wie auf das Auf- und Untergehen der Sonne. "Du bist mein." Er legt seine freie Hand an ihr Gesicht. "Meine Frau." In diesem Augenblick liebt er sie so sehr, dass es schmerzt und ihn halb um den Verstand bringt.
"Ähem", hüstelt ein gewisser Ururgroßmutterngeist entrüstet. "Ich habe noch kein Wort davon gesagt, dass du sie jetzt…"
"Halt die Klappe, Mammin."
Colevar zieht Calait an sich und hebt sie hoch, um sie zu küssen. Mit einer Hand an sie gebunden hat er zwar nur einen Arm frei, aber der genügt vollkommen. Ihr Geschmack überflutet augenblicklich seine Sinne, jedes bebende Nervenende, so berauschend wie nichts sonst auf der Welt, und er ertrinkt in ihrem Kuss. Ein Seufzen entsteigt den Herzen der Geister, vibriert durch die Nachtluft wie der Nachhall einer großen Glocke, ein pulsierendes Summen, so tief, dass sein Klang nicht auszumachen ist, aber sie spüren es durch Mark und Bein. Dann sind sie wieder allein, von einem Herzschlag auf den anderen. Die Stunde der Geister ist vorüber und zurück bleiben nur ein Dolch aus Drachenglas und das Band aus weicher, rotgetränkter weißer Wolle um ihre verschlungenen Hände.
Er hat keine Ahnung, wie sie es schaffen, sich einhändig wie sie sind, aus Hosen und Hemd zu schälen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren oder den hinderlichen Stoff einfach entzwei zu reißen, aber es gelingt ihnen irgendwie und dann hat er sie endlich, wo er sie haben will, nackt und glühend an seinem Körper, von Kopf bis Fuß in Mondlicht getaucht. Sie schlingt Arme und Beine um ihn, ist ihm so nahe, dass er ihren Herzschlag an seiner Haut spüren kann, doch das ist noch nicht annähernd nahe genug. Nicht annähernd. Er küsst sie, gierig, hungrig, fordernd, bis er sie loslassen muss, will er sie nicht ersticken und irgendwo aus seinem Inneren steigt ein leiser, drängender Laut auf, rollt durch seine Kehle und füllt die Nachtluft mit seinem ruhelosen Echo. Der Geruch ihrer Haut füllt seine Nase, seine Lungen, warm wie Erde, klar wie Frühlingsregen und dann tut er, was er ihr vor langer Zeit versprochen hat: er liebt sie, bis sie nicht mehr weiß, wo er aufhört und sie beginnt, bis sie keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen kann und überhaupt kein Ohr mehr dafür hat, was für Laute sie von sich gibt. Aber er hört sie, er fängt jede noch so leise Schwingung auf, bis er weiß, dass sie hoch genug geflogen ist. Bis er sicher ist, dass es sie den Verstand gekostet hat, weil er es fühlen und riechen und auf ihrer Haut schmecken kann. Bis er spürt, dass sie bebt und schwingt wie ein Kristall, der nur noch einen einzigen Atemhauch braucht, um zu zerspringen, bis er weiß, dass sie es keinen Herzschlag länger erträgt, ohne zugrunde zu gehen und er nichts mehr von ihr hört außer 'Bitte'. Dann nimmt er sie, wie er muss und sie teilen sich die Kühle der Nacht und das taufeuchte Gras und den flammenden Sternenhimmel über ihnen.
*Steinkreis
*Danke, Mutter.