--> Der Marktplatz Talyras
Den Marktplatz hinter sich lassend, nimmt Lyall einen zick-zack Kurs durch die kleinen Gässchen in Richtung Seeviertel. Die große breite Straße meidend, die sie fast direkt vor das Anwesen bringen würde, läuft sie lieber die stilleren und weniger frequentierten Wege entlang. Sie hat kein Bedürfnis auf Leute zu treffen, die Zeuge des Spektakels auf dem Markt geworden waren. Am Ende würde noch jemand auf die Idee kommen sie den Schaden bezahlen zu lassen, denn Lyall ist sich ziemlich sicher, dass die Fremde zwar durch die Menschen aufgehalten worden war... aber nicht allzu lange. Wenn sie die Drachenländerin schon mit einem Messer bedrohen wollte, wer könnte dann sagen, dass sie sich nicht auch einen Weg aus der Menschenmasse heraus schneiden würde? Und so bockig und unvernünftig wie dieses Weibsbild gewesen war, konnte sie auch sicher nichts dazu bringen den Schaden zu bezahlen. Selbst wenn sie das nötige Geld besessen hätte.
Nein, Lady Aurian wird nicht die Zeche dafür übernehmen. Dann mache ich eben einen kleinen Umweg durch die Stadt., denkt die Wargin bei sich und beschleunigt ihren Schritt noch etwas.
In den Gassen ist es noch sehr kühl, kleine Pfützen haben sich durch den beständigen Regen der letzten Siebentage in den Unebenheiten des Pflasters gebildet und dienen nun als Bad für Spatzenschwärme. Die Vögel fliegen schreiend auf, als die Wargin sich nähert und schimpfen von den Dachkanten auf sie herunter, doch sobald sie sich etwas weiter entfernt hatte kamen sie wieder herunter und nehmen ihr illustres Treiben wieder auf. In den Gassen ist es ansonsten einsam und still, fast wie ausgestorben. Die meisten Einwohner werden sich wohl nun auf dem Markt befinden oder ihrem Tagwerk nachgehen und selbst die Schurken verkriechen sich zu dieser Tageszeit in ihren Löchern unter der Stadt, um sich von ihren nächtlichen Eskapaden auszuruhen. Dumpf hallen ihre Schritte von den abweisenden Häuserwänden um sie herum wieder, fast so als befände sie sich in einer urbanen Kathedrale, deren Säulen die Häuserwände und die Decke der Himmel wäre. Kurz richtet sie ihren Blick nach oben zu dem schmalen Streifen Himmel, den sie zwischen Dächern ausmachen kann. Es musste nun fast Mittags sein. Die Wolken hatten sich zwar nicht ganz verzogen und auch das Grau wollte sich nicht in ein einladenderes Blau verwandeln, doch hier und da versucht die Sonne ihre Strahlen durch Lücken in den vorbei jagenden Wolken zu zwängen, was ihr jedoch noch nicht ganz gelingen will.
Avila wird wohl schon warten und vielleicht ist Lady Aurian auch schon wach. Mist, das alles ist doch einfach Mist! Und jetzt muss ich auch noch einen Umweg laufen, der mich noch mehr Zeit kostet!
Seufzend wendet sie sich der Gasse zu ihrer Rechten zu, die sie wieder in den westlichen Teil der Stadt bringen wird und taucht in dessen Zwielicht ein. Eine Katze sitzt nicht allzu weit vor ihr auf einem Haufen Unrat und blickt sie aus ihren glänzenden Augen an, dabei herzzerreißend miauend. Während sich Lyall nähert, springt die Katze von ihren Aussichtsplatz herunter und läuft der Wargin entgegen. „Ich habe nichts für dich, kleine Katze. Und Äpfel willst du sicher nicht.“ Sich kurz zu dem Tier herab beugend streicht sie über dessen ausgemergelte Gestalt und kratzt dieses hinter einem zerfetzten Ohr. „Tut mir leid, aber ich habe nichts, was du fressen würdest.“ Normalerweise mieden Katzen – oder auch Pferde, Schafe, Hühner, die Lyall nicht kannten... - ihre Gegenwart, doch dieses Exemplar war wohl zu hungrig, um bei vorbeikommenden Personen wählerisch zu sein. Sie könnte der Katze mitteilen, dass sie beim Anwesen etwas zu Fressen bekommen würde, doch in ihrer menschlichen Gestalt ist dies schwer und würde seine Zeit dauern, zudem sind Katzen im Allgemeinen nicht gerade für ihre Bereitschaft bekannt zuzuhören und Dinge zu befolgen. Vor allem nicht wenn Canidae zu ihnen sprechen. So bleibt es bei einem Tätscheln des Kopfes, bevor sich die Wargin wieder erhebt und ihren Weg fortsetzt. Diesmal jedoch begleitet von eben dieser Katze. „Kommst wohl doch mit, was?“, fragt sie lächelnd und bekommt ein kurzes Miauen als Antwort.
So geht sie ein Stück des Weges in Begleitung der kleinen Katze, die voraus läuft dann wartend stehen bleibt und kurz bevor Lyall sie einholt, wieder losläuft. Hier und dort springt sie in eine Ecke oder lugt in offene Kellerschächte, was die Drachenländerin amüsiert schmunzeln lässt. Gerade nimmt das Tier wieder Fahrt auf, um sie zu überholen und voraus zu laufen, da bleibt es auch schon wieder stocksteif stehen und macht einen Katzenbuckel, den die Wargin diesem mageren Tier kaum zugetraut hätte. Interessiert was die Katze so irritiert haben könnte schaut die Magd des Anwesens weiter die Gasse entlang und kann im Halbdunkel einen Schemen erkennen, der zusammengesunken an einer Hauswand kauert. Vielleicht ein Betrunkener... oder sogar ein Toter? Ein Schauer läuft ihr über den Rücken, bis ihr einfällt, dass sie Katze wohl kaum vor etwas totem Angst haben würde. Grübelnd bleibt sie stehen, die fauchende Katze neben sich und versucht die Gestalt auf dem Boden zu erkennen. Doch ihre menschlichen Augen schaffen es nicht die Kakophonie aus Schatten und Zwielicht zu durchdringen, doch immerhin ist sie Person allein. Umkehren ist sowieso keine Option, sie hatte einfach schon zu viel Zeit verloren. Also strafft sie die Schultern, rückt den Sack mit Äpfeln auf ihrem Rücken zurecht und geht mit schnellen Schritten auf die Person zu. Die Katze scheint da jedoch nicht mitmachen zu wollen, sondern faucht ein letztes Mal bevor sie umkehrt und sich aus dem Staub macht.
Was die Katze wohl so aufgebracht haben mag?
Bis jetzt hatte sich die Gestalt dort jedenfalls noch nicht bewegt... ein paar schnelle Schritte würden sie rasch vorbei bringen, doch... dann schält sich eine zweite Gestalt aus dem Halbdunkel und die Magd bleibt wie angewurzelt stehen. Es ist ein großer Hund. Daher hatte die Katze wohl Reißaus genommen! Doch vor Hunden hatte Lyall keine Angst. Eigentlich will sie auch schon energisch weitergehen, aber dann erkennt sie den Hund wieder... und damit auch die Person dort am Boden.
„Nicht du schon wieder...“, sagt sie laut und weiß nicht genau, ob sie lachen oder weinen soll.