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In den frühen Morgenstunden eines verschneiten Shentages
Behagliche Wärme empfängt Kaya als sie die Stube der fremden Dame betritt. Mag die Frau an der Tür eben noch so harsch gewesen sein, die Stube sieht einladend und gemütlich aus, als ginge es sie gar nichts an, was an der Tür passiert. Eben jene wird hinter Kaya zurück ins Schloss gedrückt und das Mädchen wirft einen kurzen Blick über die Schulter. Sie trifft den Blick der Fremden, der sie eingehend mustert. Wieder wandern die Augen zu dem Wolfskopf, den Kaya sich in diesem Augenblick von ihrem Kopf schiebt, und zurück zu Kayas Augen.
„Und Ihr seid…?“
„Kaya“, antwortet diese und nickt leicht mit dem Kopf.
„Seid ihr eine Freundin von Yaron?“, will sie wissen und Kaya muss sich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen.
„Nein. Nein, wirklich nicht“, erwidert sie stattdessen schnell, kann sich ein leichtes Schmunzeln jedoch nicht verkneifen.
Die Frau, etwas kleiner als Kaya, wirkt überrascht.
„Sein Liebchen?“
„Bitte?“, blinzelt Kaya nun verdutzt. „Im Leben nicht.“ Und damit lässt sie die Frau stehen und tritt vor an die Türschwelle des Raumes, aus dem sie Yarons leise Stimme vernehmen kann.
Das Bild, das sich Kaya bietet, ist irgendwie befremdlich. Jedenfalls für den Eindruck, den Kaya von Yaron bisher hatte. Da kniet der junge Mann an einem Kamin vor einem Korbsessel, in dem eine weitere Frau sitzt, regungslos in das Kaminfeuer starrend. Er hält und streichelt ihre Hand, redet im Flüsterton auf sie ein und lächelt sie… liebevoll an.
Die Frau, die ihnen die Tür geöffnet hat, schiebt sich an Kaya vorbei, nähert sich den beiden und legt der deutlich jüngeren Frau im Korbsessel die eine Hand auf die Schulter, während sie ihr mit der anderen über das schwarze Haar streicht. Ihre Tochter vielleicht?
Obwohl mehr oder weniger eingeladen, fühlt Kaya sich in dem Augenblick wie ein Eindringling. Dass sie sich nicht umdreht und geht, liegt einzig und allein daran, dass Yaron ihr noch nicht gesagt hat, bei was genau sie nun eigentlich helfen soll.
Da sieht der junge Mann auf und bedeutet ihr, näher zu treten. Zögerlich nähert sich Kaya ihm und der jungen Frau und bleibt schließlich neben Yaron stehen. Kaya blickt in ein schmales und blasses Gesicht, aus dem dunkle Augen regungslos und ohne ein Blinzeln ins Leere starren.
Wie tot…, geht es Kaya durch den Kopf. Aber nur ähnlich. Das Wolfsmädchen kennt diese Art von Blick, auch wenn es schon eine ganze Weile her ist seit sie ihn zuletzt sah, genau wie den leeren Blick Toter.
„Das ist Lioba“, zieht Yaron Kayas Aufmerksamkeit auf sich.
Eingehend mustert sie den jungen Mann mit seinen liebevollen, aber auch bekümmerten Blick auf die junge Frau. Mit einem Seufzer erhebt dieser sich und legt dabei die Hand der jungen Frau sachte in deren Schoß zurück.
Ein paar Herzschläge lang stehen sie schweigend nebeneinander und beobachten wie die ältere Frau sich mit einem Buch an die Seite der Jüngeren setzt, um ihr vorzulesen. Bevor sie die Geschichte beginnt, bittet Yaron darum, sich mit Kaya in die Küche setzen zu dürfen.
Kaya meint, einen Vorwurf im Blick der Älteren zu sehen. Dennoch erlaubt sie es ihnen mit einem Nicken, woraufhin das Wolfmädchen dem jungen Mann in einen anderen Raum folgt.
Kurz nur lässt Kaya den Blick durch die Küche schweifen als Yaron ihr mit einer Geste bedeutet, Platz zu nehmen. Erwartungsvoll mustert Kaya ihn, während er ihr schweigend gegenübersitzt, so unruhig allerdings, dass Kaya vermutet, er suche nach den richtigen Worten oder wäge ab, wie viel er ihr erzählen soll.
Kaya wartet ab.
„Lioba und ich…“, setzt er schließlich zu sprechen an, „wir sind seit ein paar Monden zusammen. Sie…“, er lächelt, „ist ein wundervoller Mensch wie aus einer anderen Welt.“
Kaya muss ebenfalls kurz lächeln, so viel Wärme und Liebe liegt in seiner Stimme. Für das Mädchen ganz unerwartet.
Schlagartig wird Yaron wieder ernst. Und unruhig.
„Sie hatte nichts mit meinen Jungs, der Straße oder sonst wem aus den Vierteln zu tun. Ich will dich nicht mit Details langweilen“, winkt er schnell ab. „Es gab jedenfalls irgendwann… Unstimmigkeiten in unserer… Gemeinschaft… Ich musste eine Gruppe ausstoßen, deren Verhalten nicht tragbar war und uns in ein schlechtes Licht rückte.“
Unwillkürlich runzelt Kaya die Stirn, hebt allerdings schnell abwehrend und mit einem Schmunzeln auf den Lippen die Hände, um Yaron zu beschwichtigen. Der jedoch verzieht keine Miene und scheint stattdessen noch einmal ernster zu werden, sofern das überhaupt geht.
„Ich weiß nicht, woher sie von Lioba wussten… aber sie wollten sich wohl rächen, mir eines auswischen oder was weiß ich.“
Jetzt wird auch Kaya ernst, als sie ahnt, worauf Yarons Bericht hinauslaufen wird. Und im gleichen Augenblick wird ihr sowohl klar woher der leere Blick der jungen Frau ruht als auch was Yaron sich von ihr erhofft.
„Sie haben sie vergewaltigt und wie ein Stück Dreck nackt auf der Straße liegen gelassen“, zischt er zornig mit gedämpfter Stimme und seine zitternden Hände ballen sich zu Fäusten.
Kaya glaubt ihm anzusehen, dass er am liebsten alle Wut und allen Frust herausschreien würde. Er braucht auch einen Augenblick, um sich zu fangen. Doch schließlich zittert der Unterkiefer nicht mehr. Stattdessen scheint er ein wenig in sich zusammen zu sinken.
„Seitdem ist sie so“, presst er mit brüchiger Stimme hervor. „Die Heiler sagen, ihr Körper habe sich von dem… Überfall erholt. Aber ihr Geist nicht.“
Kaya nickt verstehend, obwohl er es in dem Augenblick nicht sehen kann. Einige Herzschläge lang wartet sie, ob Yaron noch etwas hinzufügen will. Doch entweder will er nicht oder er weiß nicht, was er sagen soll. Also übernimmt Kaya das Wort.
„Sie hat einen Teil ihrer Seele verloren“, beginnt sie und hat sogleich Yarons volle Aufmerksamkeit. „Manche Menschen trennen sich bei so schmerzhaften Ereignissen wie diesem unbewusst von einem Teil ihrer Seele, um es heil zu überstehen. Eine Art Schutzreflex.“
Kurz kehrt sich Kayas Blick nach innen als suche er in ihren Erinnerungen nach etwas Bekanntem. Noch bevor sie aber irgendetwas finden kann schüttelt sie sich leicht, wie um etwas loszuwerden und konzentriert sich wieder auf den jungen Mann.
„Dabei kann es passieren, dass dieser abgetrennte Teil der Seele nicht mehr von allein zurückkehrt, entweder weil er nicht will oder weil er nicht kann. Die Auswirkungen dessen können ganz unterschiedlich ausfallen. Manche Menschen fühlen sich irgendwie unvollständig, fühlen sich von ihrem Körper oder gar von Familien und Freunden getrennt. Und manchen ergeht es wie deiner Freundin…“
Kaya senkt nachdenklich den Blick und verschränkt die Arme vor ihrer Brust. Sie hat noch nie eine Seele zurückgerufen und den Pfad, der ihr dabei hilfreich sein kann, geht sie erst seit kurzem. Im Selbststudium die Pfade zu betreten ist unheimlich schwer und langwierig, doch einen guten und verlässlichen Lehrer hat Kaya zurzeit nun einmal nicht.
„Kannst du ihr helfen?“
Kaya blickt auf und Yaron an, der sich erwartungsvoll weit über den Tisch gebeugt hat. Das Wolfsmädchen kann das hoffnungsvolle Glitzern in seinen Augen sehen und seufzt innerlich.
„Möglicherweise.“
Fast wäre Kaya erschrocken aufgesprungen als Yaron so geschwind bei ihr ist und ihre Hände in seine nimmt. Entgeistert blickt sie zwischen ihm und ihren Händen in den seinen hin und her.
„Was müssen wir tun?“, will er von ihr wissen.
Kaya öffnet den Mund um zu antworten und stammelt zunächst doch nur verdutzt vor sich hin.
„I-Ich habe das noch nie gemacht. Also, ich weiß wie es geht. Wie es gehen müsste. Denke ich. Ich…“
Wieder blickt sie auf ihre Hände und anschließend Yaron an.
„Könntest du bitte…?“
Der junge Mann begreift nicht sofort. Erst als Kaya vorsichtig versucht, ihm ihre Hände zu entziehen, lässt er sie los und stammelt eine Entschuldigung. Kaya atmet tief durch und schließt einen kurzen Augenblick die Augen, um sich wieder zu sammeln. Als sie Yaron dann erneut anblickt, fühlt sie sich auch wieder gefestigter.
„Ich kann versuchen den Seelenteil mit Hilfe eines Rituals zurückzurufen. Allerdings kann ich nichts versprechen. Erst einmal muss ich den verlorenen Teil ihrer Seele finden und dann muss er auch zurück wollen.“
Yaron nickt.
„Wie kann ich helfen? Was können wir tun?“
Das Wolfsmädchen neigt nachdenklich den Kopf.
„Nicht viel“, erwidert sie, „sorgt dafür, dass sie sich in einer Umgebung befindet, in der sie sich wohlfühlt und es bequem hat, wenn wir das Ritual durchführen. Ich meine auch Gerüche und Geräusche, die ihr vertraut sind, bei denen sie sich wohl fühlt.“
„Also am besten hier“, murmelt Yaron. „Wann können wir anfangen?“
Kaya überlegt einen Augenblick.
„Ich muss das Ritual vorbereiten.“
Und mich selbst ebenso… „Heute Abend?“, sieht sie fragend auf.
Yaron nickt so hoffnungsvoll, dass Kaya am liebsten laut seufzen würde.
Nur nicht unter Druck setzen lassen. Es kann funktionieren…
„Dann heute Abend.“
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