Beerenreif 518 - Irgendwo im Nirgendwo
"Befürchte nicht die Dinge, die du beherrscht, Löwe der Schlacht. Fürchte jene, die dich beherrschen."
[Tyalfen, Aniran & Heiler]
Nachtschwarze Dunkelheit umfängt ihn, als er benommen der Trance entrissen die Augen aufschlägt und noch nicht so recht weiß, wo er überhaupt ist. Doch schon mit dem nächsten Wimpernschlag schreckt er hoch und presst seine Hand auf den Mund der jungen Frau, die kaum einen Schritt weit neben ihm liegt. "Ssssscht, Muriann, wach auf" flüstert er hastig und umklammert ihren zitternden Oberkörper, kaum dass sie hochfährt. Ihr Atem geht schnell und schwer, aber sie ist wach und kommt allmählich zu sich. Langsam lockert er seine Arme um sie, hält sie so, bis sie sich gegen seine Schulter lehnt. "Nurm?", fragt er nur leise und dicht an ihrem Ohr und er spürt, dass sie nickt. Also hält er sie weiter und streichelt beruhigend sanft ihren Arm.
Muriann gehört zu den Anirani, wie er selbst und was ihr gerade im Traum widerfahren war, kennt jeder unter ihnen, der einem Todgeweihten das Scheiden aus dieser Welt erleichtern musste - vor allem wenn man Nurms Geleit so oft zu weben gezwungen war, wie sie beide in den zurückliegenden Monden ... viel zu oft. Er selbst wird von den Todesahnungen allerdings nicht im Traum berührt, denn Ilfaya träumen nun einmal nicht. Ihn suchen diese Sinnestäuschungen heim, wenn er seinen Geist leert, um in die Trance zu gleiten oder um zu meditieren, nicht jedes Mal, aber inzwischen auch ... viel zu oft.
"Hab ich geschrien?" wispert sie nach einem kleinen Weilchen und klingt besorgt. Aber diese Sorge kann er ihr nehmen. Es war nur ein Schluchzen, dass nicht weiter als fünfzehn, zwanzig Schritt zu hören gewesen sein konnte. Zumindest nicht für Menschenohren, denkt er im Stillen, und hatte doch längt schon seine spitzen Ohren in den Wald gerichtet. Nichts hatte sich geregt. Da waren nur die typisch nächtlichen Stimmen des Waldes, das ewige Säuseln des Blätterdaches über ihnen und die tiefen Atemzüge drei schlafender Männer, die zu ihnen gehörten. Es ist ihre zweite Nacht auf gríanàrd'schen Terrain und sie mussten verdammt vorsichtig sein. Mehrmals während des vorangegangenen Tages hatten sie sich vor berittenen Patrouillen verstecken müssen, waren auf die verwesenden Überreste eines einfach gekleideten Mannes gestoßen, dem zwei Pfeile im Rücken steckten und eine ganze Armada Fliegen umsurrte, den zu begraben sie im stark kontrollierten Grenzgebiet nicht wagen durften, wollten sie vermeiden entdeckt zu werden und selbst so zu enden, wie dieser arme Kerl. Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein. Natürlich ist das, was sie hier tun nicht ungefährlich. Aber die feste Überzeugung, genau das Richtige zu tun, treibt sie an.
Das Richtige? Nun ja, wenn man einen gewissen Steinfaustkorporal oder gar den alten Xacbeart selbst, seines Zeichens Lord von Rhayader und Herr des Hauses Rífbardán, auch als "Löwe der Schlacht" bekannt, fragte, hörte man sie gewiss etwas anderes sagen. Sie konnten oder wollten einfach nicht begreifen, dass eine solch verheerende Seuche, die weitaus größere Bedrohung für Talyra sein könnte, als die kriegslüsternen Herren von Bailaweyr, denn den Kampf gegen die Seuche führten sie noch gänzlich unbewaffnet. Einzig und allein strengsten Quarantänemaßnahmen war es zu verdanken, dass sie seit Sonnenthron keine Neuansteckungen mehr verzeichnen mussten. Und während sich in Rhayader die Lage soweit entspannt hatte, dass man den Menschen jenseits der Grenze endlich Hilfe entsenden konnte, denn eben jene kriegslüsternen Herren von Bailaweyr hatten keine bessere Idee, als die eigenen Landsleute ganz gleich ob tot oder lebendig, viel wahrscheinlicher aber irgendwo dazwischen, martialisch abzufackeln, wird ihnen jegliche Hilfeleistung strikt verboten und befohlen genau nichts zu tun? Jedem aniranischen Eid zuwider? Der Chance zum Trotz, der Seuche dort in Gríanàrdan, wo sie noch wütete, doch noch ihre Geheimnisse zu entlocken?
Daraufhin haben sich alle Heiler und Anirani in geheimer Zusammenkunft beraten. Sie vermochten immer noch nicht zu sagen, warum die Seuche ausgebrochen war, noch wie genau sie sich verbreitete. Selbst der seltsam untypische Beginn bei andauernden Frost bereitete ihnen mehr Kopfzerbrechen als Lösungsansätze. Sie hatten die Seuche lediglich ausgehungert, aber keinen einzigen heilen können und das bei einer desaströs hohen Sterblichkeitsrate unter den Menschen. Aus eigener Kraft überlebte von einem Dutzend den ersten Siebentag im Schnitt gerade mal ein Einziger, dessen Chancen zu leben oder sterben im nächsten Siebentag relativ ausgeglichen waren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit konnten sie sein überleben aber erst nach einem Mond prognostizieren, denn im dritten und vierten Siebentag starb ihnen noch jeder Sechste unter den Händen weg.
Aus Mangel an gesicherten Erkenntnissen konnten sie nicht einmal ausschließen, dass diese Seuche in irgendeiner kommenden Frostperiode in Talyra selbst ausbräche, was aber nach ihren bisherigen Erfahrungswerten verheerende Folgen haben würde. Ausgehend von geschätzten 36.000 Menschen, vorausgesetzt sie würden alle erkranken, was bei der dichten Besiedlung innerhalb der Stadt bei vermutetem einem Siebentagen von Ansteckung bis Erkrankung leider kein zu überzogenes Szenario ist, würden nach einem Siebentag noch ganze 3.000 leben, nach zweien nur noch 1.500 und davon 1.250 überleben. Für andere Spezies ließen sich in Ermangelung verwertbarer Daten keine Voraussagen treffen. Lediglich von Vögeln, insbesondere Rabenvögeln wussten sie, dass sie sich wesentlich schwerer ansteckten und binnen weniger Tage allesamt genasen, lächerlich im Vergleich zur menschlichen Rasse, was sie allerdings als potentielle Überträger keineswegs ausschloss.
Nein, bei allem gebührendem Respekt gegenüber anderslautenden Einwänden, sie hatten allein schon 34.750 talyrische Gründe, sich nicht an Verbot und Befehl zu halten. Sie wollten jedoch wenigstens bei der Auswahl der Entsandten Relevanz erfahren, denn keinesfalls sollten sich die Rückkehrer den Konsequenzen verweigerter Befehle oder der Untreue im Dienste der Steinfaust ausliefern müssen. So fällt die Wahl auf die Zivilisten dieser Einheit, drei Heiler, eine Anirana und einen Aniran.
"Was ist das", hört Tyalfen sie leise fragen und muss lächeln. Diese Frage war zu erwarten, nachdem ihre Hand nicht mehr nur auf ihm ruhte, sondern das kleine, harte Dingelchen unter seinem Gewand zu ertasten versuchte. "Eine Eichel", antwortet er Muriann zunächst nur und kann förmlich spüren, wie sie stutzt und einen Augenblick später zu ihm aufschaut. Sein Lächeln vertieft sich unweigerlich, tut es immer, wenn er daran denkt. "Keine Echte, vielmehr eine kostbare Nachbildung aus Bernstein. Meine Frau schenkte sie mir zu unserer Verlobung." Dass er sie kostbar nennt, hat weit weniger mit dem verwendeten Bernstein zu tun, als man bei einem Ilfaya vermuten könnte. Sie ist der Träger einer unschätzbar wertvollen Erinnerung, das Symbol mit dem alles Schöne seinen Anfang nahm. Mit ihrer nächsten Frage, wie lange er schon verheiratet sei, schmilzt sein Lächeln allerdings zu wehmütiger Grimasse, unbemerkt im Dunkel der Nacht, anders als der gedehnte Stoßseufzer, unter dem sich sein Brustkprb deutlich hebt und senkt. "Wir wollten in diesem Sommer vor den Traualtar treten." "Oh, tut mir Leid, Ich dachte..." "Schon gut" unterbricht er sie, wohlwissend, dass Arúen seine Frau zu nennen eben so klingen musste und genau das auch vor allen Elben und Göttern längst wäre, hätte Llaeron ihnen nicht so dermaßen dazwischen gepfuscht. "Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben." Dann heiraten sie eben, sobald er wieder heimkehren kann in Talyra. Arúen und er brauchen kein hochherrschaftliches Fest, schon gar nicht fernab all der Lieben, die sie in Talyra haben und wenn ihrem Vater dies nicht schmeckte, kann der sich liebend gern beim Schicksalweber selbst beschweren.
"Dann war die Nachricht für sie bestimmt?" Mit dieser Vermutung tippt Muriann genau ins Schwarze und spricht doch etwas an, dass Tyalfens Herz neben der Sehnsucht nach seiner Sonne und seinem Stern unsäglich beschwert, nämlich jenen Teil ihres Planes in der Neumondnacht ihres Verschwindens, der nicht gelingen wollte. Jeder unter den nachtwachenden Blaumäntel war da auf seinem eingeteilten Posten vor bleiern schwerer Müdigkeit (mit freundlichen Grüßen aus der Kräuterkunde), gegen die sich zu wehren schlichtweg aussichtslos war, zusammengesackt und in tiefen, traumlosen Schlaf "gefangen" - alle, bis auf einen. Warum musste auch dieser ziegenbärtige Rotschopf ausgerechnet in dieser Nacht zur Wache an den Volieren eingeteilt sein?! Der einzige Kostverächter wohlzubereiteter Aufgüsse, sofern sie weder Hopfen noch Malz kannten! Für die Mission glücklicherweise nur dort an den Rabenkäfigen, war das für Tyalfen mehr als Pech. Sie konnten sich ungesehen aus dem Lager schleichen, doch die kleine Hülse, in der fein säuberlich zusammengerollt ein kleines Schriftstück, Worte voller Liebe, Sehnsüchte, Hoffnungen und Erklärungen verwahrte, trägt er immer noch bei sich.
Indessen dürfte dieser aus Quarantäne verfügbare Rabe wohl inzwischen eine ganz andere Nachricht nach Talyra gebracht haben. Er kann sich nur mit der Gewissheit trösten, dass seine Liebste über beste Quellen verfügte, wenigstens indirekt zu erfahren, dass es ihm gut geht, wenn nicht als Stadträtin, dann als Freundin vieler einflussreicher Talyrer. Bestimmt hatte sie von den strengen Quarantänemaßnahmen erfahren, wenn nicht gleich, dann vielleicht als sie bemerken musste, dass ihre eigenen Raben mit einer Verspätung von zwei Siebentagen mit anderen dringlichen Meldungen zurückkamen? Es muss einfach so sein, klammert sich Tyalfen an eine vage Hoffnung, denn der Inhalt ihrer letzten Zeilen klang so ... so ... verzweifelt?