Ende Sturmwind 517
Dunkle Schwingen, dunkle Kunde
Rhordri steht am Ende des langen Ganges im äußersten Westflügel der Steinfaust vor der eisenbeschlagenen Tür aus Steineiche und weiß beim besten Willen nicht, wie er den vor ihm liegenden Tag überstehen soll. Seine alten Augen sind rot und verschwollen, seine knubbelige Nase läuft, weil er den ganzen Morgen Rotz und Wasser geheult hat und nun steht er hier und soll Diantha und den Kindern diese Nachricht überbringen. Es ist der erste, schwere Gang von vielen, die er am heutigen Tag noch vor sich hat und er weiß einfach nicht, woher er die Kraft nehmen soll, das zu bewerkstelligen, wenn es ihm jetzt, beim allerersten, schon so schwerfällt. Dabei muss er auch noch zu Borgil, zu Cinneidínn Bronzedraht, zu Padraig Einarm, Pumquat und… zu Colevar. Götter, dass das mir passieren muss, verdammt… Noch vor der Dämmerung, zur Stunde der Jungfrau, hatte ihn ein Botenjunge aus dem Schlaf gerissen mit der Nachricht, ein völlig ausgezehrter Rabe aus dem Süden sei eben mit einem Brief vom Lord Commander an ihn, Rhordri, im Rabenschlag angekommen. Natürlich hatte er sich auf der Stelle aus seinem warmen Bett gewuchtet, war steifknochig, unrasiert und mit einem löchrigen Strumpf in seine Stiefel geschlüpft und hergeeilt. Er hatte den Rabenmeister angewiesen, sich gut um das erschöpfte Tier zu kümmern und sich dann in Olyvars (ohne den Mann so leeres) Solar zurückgezogen, um in Ruhe den Brief zu lesen. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Dann hatte er etwa zwei Stunden gebraucht, um die Nachricht zu verdauen, sich einigermaßen zu fassen und daran zu machen, seine traurige Pflicht zu erfüllen. Was würden nur die Männer… Und die übrigen von Olyvars Sieben? Herrje, er darf gar nicht daran denken. Die Tempelglocken schlagen gerade zur Stunde des Morgenrots, wenigstens würde er die arme Diantha und die Kinder nicht aus den Betten werfen. Er kann sie hinter der Tür schon in der Halle rumoren hören, wo sie wohl alle gerade beim Morgenmahl sind. Wegen des anstehenden Inarifestes übermorgen ist kein Unterricht im Tempel, denn alle Welt und die ganze Stadt bereiten sich auf den Hochtag der Göttin vor. Du schindest Zeit, Alter! Mit schwerem Herzen betätigt er mit seinen alten, knorrigen Soldatenfingern den furchtbar zierlichen Türklopfer und wartet. Es dauert nicht lange, bis Diantha ihm öffnet, ein breites, argloses Lächeln im Gesicht und eine Tasse dampfenden Cofeas in der Hand. Sie sagt irgendetwas davon, dass es schön wäre, ihn zu sehen, ob er vielleicht das Morgenmahl mit ihnen teilen würde – er ist ja oft zu lästerlich früher Stunde in der Steinfaust und es wäre nicht das erste Mal, dass er mit Olyvars Familie frühstückt, etwa wenn er des nachts Dienst hatte oder die Frühwache übernehmen muss. Doch er schüttelt nur den Kopf und weil ihm einfach die Worte fehlen, alle Worte, hält er Diantha schweigend den zerknitterten – und mit reichlich Tränenspuren versehenen – Brief Olyvars hin. "Hier, lies. Er kam heute morgen an. Zeig ihn nicht den Kindern."
Mar'Varis, 20. Taumond 516
Olyvar von Tarascon an Rhodri Dinefwr, Kastellan der Steinfaust
Steinfaust zu Talyra am Nordostufer des Ildorel
Rhordri,
Ich schreibe noch immer dir, da ich nicht weiß, ob Diantha mittlerweile nach Hause zurückgekehrt oder noch in ihren geschäftlichen Angelegenheiten auf Reisen ist und daher ein Brief an sie vielleicht nicht ankäme. Falls sie inzwischen zurück in Talyra ist, dann bitte sie in meinem Namen zu bleiben und ihre Geschäfte so lange aufzuschieben, bis ich zurück sein kann. Es wird ihr vielleicht nicht gefallen, doch ich kann nicht sagen, wie lange ich noch fort sein werde, auch wenn unsere Suche sich ihrem Ende zu nähern scheint. Der Rückweg ist so unendlich lang und meine Kinder sind nun schon seit fast zwei Monden ohne mich, ich will sie nicht noch länger ohne ihren Vater und ihre Mutter lassen. Ich hoffe, sie wird das verstehen und es wird ihr möglich sein, ihr Bleiben zu arrangieren. Sollte das nicht gehen, dann fühle dich bitte frei, die Kinder zu Borgil und Azra oder zu Niniane zu bringen, wenn es dir und Morna zu viel werden sollte. Ich hoffe inständig, wir können uns bald auf den Weg nach Hause machen, doch hier sind Dinge im Gange, die unsere schlimmsten Befürchtungen weit übersteigen und wir sind längst in eine sehr viel verworrenere und größere Geschichte hineingestolpert, als nur die Rettung einer verschleppten Schwester, doch davon gleich. Ich hoffe, dass in der Steinfaust und in Talyra alles in bester Ordnung ist, und alle die unseren bei guter Gesundheit sind; ganz besonders deine Töchter und deine wachsende Enkelschar. Ich bete zu den Göttern, dass meine Kinder ebenfalls wohlauf sind, und auch, dass Morna und du noch nicht versucht waren, sie in deinem alten Boot auf den Ildorel hinauszufahren und dort über Bord zu werfen. Ich weiß, sie können gelegentlich eine rechte Plage sein. Wir sind alle heil und mehr oder weniger unversehrt in Mar'Varis angekommen – ich schrieb dir ja bereits aus Sen'afe, dass die Karawane, mit der wir auf der Shakh nach Süden gereist sind, überfallen wurde und der Narrenkönig während dieses Kampfes verwundet worden war – doch seine Verletzungen heilten recht gut und waren eigentlich keine Katastrophe. In Sen'afe jedoch schloss sich uns der Nandé Ogoun an - du wirst dich an ihn erinnern, er war Karamanehs Leibwächter in den Diensten des Händlers Nabil - und behauptete, Borgil habe ihn selbst hinter uns hergeschickt. (Ich denke, er hat in dieser Sache die Wahrheit gesagt, bitte dich aber dennoch, bei Borgil deswegen nachzufragen. Du wirst ohnehin zu ihm gehen und ihn von einigen Dingen unterrichten müssen.) Kalam warnte uns vor Ogoun, doch Rayyan, der Narrenkönig und ich – und auch die Malankari selbst – hatten keinen Grund, dem Mann zu misstrauen und schlugen seine Warnungen in den Wind. Wie bitter haben wir das bereut. Ich komme mir so unendlich dumm deswegen vor, nicht auf den Sithechjünger und seine Nase gehört zu haben, dass ich mich selbst ohrfeigen möchte. Denn hätten wir es getan, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Doch nun muss ich dir eine schreckliche Nachricht mitteilen und da es keinen Weg gibt, das schonend auszudrücken, schreibe ich es geradeheraus: Der Narrenkönig ist tot, Rhordri. Ogoun hat sich, ganz wie Kalam es befürchtete, als Verräter erwiesen und ihn erschlagen. Es stellte sich heraus, dass der Nandé die ganze Zeit über, auch nach dem Felsenkessel, in Nabils Diensten stand. All die Geschehnisse, die sich hier in Mar'Varis in den letzten beiden Tagen ereigneten und die Umstände, die zu ihnen führten, sind ziemlich furchtbar und zum aus der Haut fahren kompliziert, so dass ich sie nicht niederschreiben kann, denn ich muss bis zu Kalams und Karamanehs Rückkehr (sie sind im Haus von Sonne und Mond und statten dem Südlichen Orakel einen dringenden Besuch ab) mit dem Brief fertig werden. Was du jedoch wissen musst, ist, dass der Narrenkönig für uns, seine Freunde, sein Leben ließ und dass sein Tod wenigstens nicht vergebens war. Er konnte noch Dinge von ungeheurer Wichtigkeit für uns in Erfahrung bringen, ehe er starb, so dass wir wissen, wohin uns unsere Schritte als nächstes führen werden. Gerade jetzt, während ich dir schreibe, treffen wir die letzten Vorbereitungen, in die Sahil Sahyun aufzubrechen, wo wir hoffentlich sehr bald Zaleh finden werden. Kalam hat Ogoun getötet, er ist also gerächt. Wir verbrannten den Narrenkönig am gestrigen Tag an den Ufern des Bar el-Atbár, so dass ich seine Asche nach Hause bringen kann. Ich will ihn auf dem Sithechacker zur Ruhe betten, dort, wo auch die anderen Blaumäntel liegen, so dass er im Kreis der unseren seinen Frieden finden mag. Es tut mir leid, dir das aufbürden zu müssen, Rhordri, aber du wirst meine Familie, meine übrigen Sieben und die ganze Steinfaust davon unterrichten müssen, dass wir einen Bruder verloren haben. Den unseligen Cha'lat konnte ich einfordern, auch wenn mich das viel gekostet hat. Die Umstände, die dazu führten, sind noch haarsträubender - doch das werde ich dir irgendwann bei einem Abend mit sehr, sehr viel Branntwein erzählen, wenn ich wieder in Talyra bin. Jedenfalls haben wir das Geleitschreiben des Schahs und sind nun in dieser und anderer Sache mehr oder minder in seinem Auftrag unterwegs. Ich kann dir unmöglich von allem berichten, worüber wir im Zuge von Ogouns Verrat gestolpert sind und was wir alles erfahren haben. Doch du musst wissen, ich kann dir das nicht ersparen, dass wir uns in große Gefahr begeben werden. Wir haben keine Wahl. Die Spur, die wir verfolgen, ist vielversprechend, doch die Männer, die wir jagen, haben uns etwa einen Siebentag voraus und wir dürfen die Fährte nicht kalt werden lassen. Ich will, dass du Borgil von allem berichtest, vor allem von Nabil Saif-Al-Qadir und Ogoun und ich verlasse mich darauf, dass der Zwerg wissen wird, was zu tun ist. Ogoun ist tot, hinter Nabil – und seinem Herrn – sind wir selbst her… und mit der Hilfe der Götter werden wir sie auch zur Strecke bringen und Zaleh befreien. Ich kann nicht abschätzen, wie lange unsere Jagd noch andauern wird, aber ich hoffe und bete, dass sie in den nächsten Siebentagen ihr Ende findet und wir alle nach Hause zurückkehren können. Sag meinen Kindern, dass ich sie sehr liebe und es nicht erwarten kann, wieder bei ihnen zu sein.
In Liebe
Olyvar
Nachtrag: Es ist Sturmtag. Agnirs Hochtag mag hier in den Weiten Azuriens keine Bedeutung haben, aber er ist der Herr der stürmischen Gezeiten. Betet für uns.